Acta Structuralica

international journal for structuralist research

Book | Chapter

221514

Die Geschichte als Wissenschaft

Gerardus Heymans

pp. 200-226

Abstract

Vor noch nicht allzulanger Zeit würden die Worte, in denen ich versucht habe den Gegenstand meines heutigen Vortrages zusammenzufassen, Befremdung hervorgerufen, vielleicht sogar Anstoss gegeben haben. Die Geschichte als Wissenschaft, würde man gesagt haben, das ist eine Tautologie: was sollte die Geschichte anderes sein als Wissenschaft, und welche Wissenschaft sollte auf diesen Namen mehr Ansprüche geltend machen können als die Geschichte? Aber wie Sie wissen, ist dies in den letzten zehn oder fünfzehn Jahren anders geworden. In bezug auf diese Wissenschaft der Geschichte, die auf soviele Dienstjahre weisen kann wie irgendeine andere; die sich im Laufe der Zeit regelmäfsig und allmählich entwickelt hat, und doch so wenig von der ursprünglichen Linie abgewichen ist, dafs derselben noch unlängst von mafsgebender Seite einer ihrer ersten Begründer als ein bisher noch nicht wieder erreichtes Muster vor Augen gestellt werden konnte2); die endlich in dem letzten Jahrhundert die Befriedigung gehabt hat, ihre Problemstellungen und Methoden auf mehr als ein fremdes Gebiet verpflanzt und mit Erfolg angewendet zu sehen, — in bezug auf diese Wissenschaft der Geschichte wird nun plötzlich gefragt, bezweifelt, ja sogar mit Entschiedenheit geleugnet dafs sie als Wissenschaft besteht, und in ihrer gegenwärtigen Form bestehen kann. Kämen nun der Zweifel und die Leugnung von der Seite der Philosophen, dann würde man darin wahrscheinlich nicht mehr sehen als einen neuen, obschon unnötigen Beweis für die diesen Leuten eigene Neigung, auch bei dem Augenscheinlichen ein Fragezeichen zu setzen und das Ungereimte als möglich zu denken. Aber es ist anders: obwohl vielleicht, wie alles Gute und Böse, alle weisen und törichten Dinge in dieser Welt, von den Philosophen vorbereitet, ist die Bewegung im Lager der Historiker selbst zum Ausbruch gekommen; und insofern sich Philosophen in den Streit gemischt haben, haben sie beinahe ohne Ausnahme (dies möge ihnen bei einer Abrechnung von ihren Sünden abgezogen werden) nicht im revolutionären, sondern im legitimistischen Heere Dienst genommen.

Publication details

Published in:

Heymans Gerardus (1927) Gesammelte Kleinere Schriften zur Philosophie und Psychologie I: Erkenntnistheorie und Metaphysik. Dordrecht, Springer.

Pages: 200-226

DOI: 10.1007/978-94-017-6194-9_9

Full citation:

Heymans Gerardus (1927) Die Geschichte als Wissenschaft, In: Gesammelte Kleinere Schriften zur Philosophie und Psychologie I, Dordrecht, Springer, 200–226.